Die Europameisterschaft wo Deutschland sechs Medaillen holte wird von unserem „Außenminister“ Wilfried Walter nachbetrachtet:
Die Hallen-EM in Torun war die erste internationale Meisterschaft, die seit Beginn der Corona-Pandemie stattfand und hatte deshalb besondere Auflagen und Erwartungen zu erfüllen. Und obwohl im Gegensatz zu Deutschland im Vorfeld nicht überall nationale Hallenmeisterschaften ausgerichtet werden konnten, und einige Topathleten im Olympiajahr andere Schwerpunkte setzten, gab es bei diesen Titelkämpfen ohne Zuschauer (und ohne Teilnehmer aus Russland) nur vier Monate vor Beginn der Olympischen Spiele teils hervorragende Leistungen.
Im 60-Meter Finale siegte sowohl die Schweizerin Ajla del Ponte (7,03sec, 19 Hundertstelsekunden Vorsprung), als auch der Italiener Lamont Jacobs (6,47sec, LR, 13 Hundertstelsekunden Vorsprung) mit dem größten Vorsprung in der Geschichte von Hallen-Europameisterschaften. Zugleich steuerten sie zwei von acht Weltjahresbestleistungen bei diesen Titelkämpfen bei. Mit dem Norweger Jacob Ingebrigtsen gewann zum ersten Mal in der Geschichte dieser Titelkämpfe ein Athlet sowohl die 1.500m als auch die 3.000m, und der Überflieger Armand Duplantis steigerte den Meisterschaftsrekord im Stabhochsprung auf 6.05m. Überragend auch das Duell im Hochsprung der Männer zwischen Titelverteidiger Gianmaco Tamberi (2,35m) und dem 23-jährigen Freiluft-Vize-Europameister Maksim Nedasekau (2,37m).
Nachwuchs auf dem Vormarsch
Bemerkenswert waren in Torun die Erfolge von Athleten (und Nationen), die bisher nicht so sehr im Rampenlicht standen, und ihre Zukunft noch vor sich haben:
So gewann die Britin Keely Hodgkinson nur vier Tage nach ihrem 19. Geburtstag die 800m und avancierte zur jüngsten 800m Halleneuropameisterin aller Zeiten. Auch die belgische 1.500m-Siegerin Elise Vanderelst ist erst 23 Jahre alt.
In Gala-Form präsentierte sich über 400m die 21jährige Niederländerin Femke Bol mit zwei Titeln (und zwei Landesrekorden!). Der griechische Europameister im Weitsprung, Miltiadis Tentoglou (22 Jahre) gewann mit Weltjahresbestleistung von 8,35m, und auch die Silbermedaillengewinner über 60m, Kevin Kranz (GER) und Lotta Kemppinen (FIN) sind beide erst 22 Jahre alt.
Die Europameister Yaroslava Mahuchikh (UKR, 19 Jahre), Jakob Ingebrigtsen (NOR, 20 Jahre, bereits 5 Hallen-EM Titel) und Armand Duplantis (SWE, 21 Jahre) gehören mittlerweile fast schon zu den „Etablierten“.
Auch im DLV nutzten einige Athleten, die (noch) nicht dem Olympiakader angehören, ihre Chance, sich auf dem Weg nach Tokio zu profilieren (Eckhardt, Kranz, Klein). Aber nicht nur diese Nachwuchsathleten machten von sich reden, auch einige Nationalteams überraschten mit einer nicht erwarteten Medaillenausbeute. Zwar erkämpfte das britische Team die meisten Medaillen (2/4/6 = 12), die Nationenwertung aber gewann überraschend die Niederlande (4/1/2 = 7, drei Landesrekorde in Torun) vor Portugal (3/0/0 = 3). Auch Belgien (2/2/1 = 5) und die Schweiz mit zwei Goldmedaillen (2/0/0 = 2) hatte man in der Nationenwertung nicht unbedingt vor Deutschland erwartet.
Die deutsche Bilanz
Wie bei den Titelkämpfen in Glasgow vor zwei Jahren konnte kein Athlet des Deutschen Leichtathletik-Verbandes EM-Gold gewinnen. Aber während es 2019 in Glasgow „nur“ fünf Medaillen für die deutsche Mannschaft gab (15. Platz in der Nationenwertung, 0/4/1), gab es diesmal sechs Medaillen (16. Platz Nationenwertung, 0/2/4).
Die Hallen-Europameisterin von 2013, Christina Schwanitz, holte dieses Mal Bronze, und auch Max Hess sicherte sich im Dreisprung – zum dritten Mal hintereinander bei Halleneuropameisterschaften – die Bronzemedaille. Der als Jahresschnellster angereiste Kevin Kranz war angesichts von Silber zwar ein wenig enttäuscht, hätte aber auch mit PB/DR wohl nicht gewonnen. Hanna Klein holte mit starkem Schlussspurt ihre erste internationale Medaille (Bronze). Malaika Mihambo hat wohl manch einer etwas mehr zugetraut als die Silbermedaille, aber auch sie gewann ihre erste Medaille bei Halleneuropameisterschaften.
Die größte Überraschung aber lieferte Neele Eckhardt mit Bronze im Dreisprung, nur einen Zentimeter hinter der Goldmedaille, im engsten Titelkampf aller Zeiten. Sie überbot mit ihrem Silbersprung (14,52m) nicht nur ihre bisherige Hallenbestleistung (14,17m) um 35cm, sondern auch ihre Freiluft-Bestleistung von 14,35 Metern.
Licht und Schatten bei den Stabhochspringern: Während Oleg Zernikel fast sensationell Vierter wurde (5,70m), leistete sich Bo Kanda Lita Baehre im Finale einen „Salto Nullo“, der Jahresbeste Thorsten Blech verpasste sogar das Finale.
Die Organisation
Mit den Halleneuropameisterschaften, den Staffelweltmeisterschaften in Chorzow (World Athletics Relay, 01. – 02. Mai) und der Team-EM, ebenfalls in Chorzow, (29.05. – 30.05.) ist Polen innerhalb von nur vier Monaten gleich dreimal als Ausrichter großer internationaler Meisterschaften gefordert. Entsprechend engagiert gingen die Ausrichter zu Werke, die Athleten lobten durchweg die Organisation, Christina Schwanitz in ersten Interviews auch das Hygiene-Konzept.
Trotzdem gab es etliche Fälle von Corona-Infektionen: die polnische 4x400m-Staffel der Männer konnte wegen positiver Corona-Tests nicht zum Finale antreten, und nach der Wiedereinreise in Deutschland wurden sieben Teilnehmer des DLV positiv auf Corona getestet. Auch andere europäische Nationen berichteten von positiven Corona-Testergebnissen – mehr als 50 Infektionen waren zehn Tage nach Ende der Titelkämpfe bereits aktenkundig. Titelkämpfe in der Halle als Ursache für einen Hotspot – das sind schlechte Nachrichten für Tokio, wo viele Sportarten in der Halle stattfinden und nicht nur 700 Sportler aus 47 Nationen, sondern mehr als 10.000 aus rund 200 Nationen zusammenkommen werden.
Neue und positive Wege beschritten die Ausrichter mit ihrem „ePackage“ (gegen kleines Geld konnte man mit seinem Pappkonterfei präsent sein, ca. 10 – 20 FREUNDE nutzten das Angebot) und mit den eingeblendeten voraussichtlichen Endzeiten bei den längeren Läufen. Sehr gut auch das umfangreiche und variable Livestream-Angebot von Eurovision Sports, grottenschlecht hingegen das Angebot im deutschen öffentlichen Fernsehen (statt Leichtathletik werden auf Sport 1 lieber die „Kernsportarten“ Billard und Darts übertragen)!
Internationale Titelkämpfe für eine so komplexe Sportart wie die Leichtathletik zu organisieren, ist gerade in Coronazeiten eine enorme Herausforderung. Diese wurde in Torun vom organisatorischen Ablauf her erfolgreich bewältigt. Die zahlreichen Corona-Infektionen zeigen aber, dass die kontroverse Diskussion, die olympischen Spiele dieses Jahr durchzuführen (mit oder ohne Zuschauer), zumindest berechtigt ist.
Alle Ergebnisse zur Hallenmeisterschaft können Sie hier abrufen.