Hinter jedem Sportler, der bei den Olympischen Spielen startet, stehen hunderte, die sich nicht qualifizieren konnten. Ich bin einer davon. Darüber möchte ich sprechen. Über meinen Weg zur verpassten Olympiaqualifikation.
Ohne Olympische Spiele ist eine Sportkarriere nicht vollkommen. So zumindest fühlte es sich für mich an, als klar war, dass ich in Tokio nicht dabei sein werde. 16 Jahre Leistungssport, Trainingskilometer sammeln, die mich einmal die ganze Welt umrunden lassen würden und dann ohne den olympischen Geist ins Karriereende schreiten? Das war für mich erst einmal eine emotionale Wucht, die ich nicht so schnell verarbeiten konnte. Nach meinem letzten Wettkampf in Luzern, der in 13:39 Minuten über die 5000 Meter weit von einer Olympiaqualifikation entfernt war, verzog ich mich erst einmal für ein paar Tage in die Schweizer Berge. Abstand bekommen, nachdenken und durchatmen.
Schließlich war ich bis Mitte April auf einem guten Weg: Deutscher Vizemeister in der Halle über 3000 Meter und eine Finalteilnahme bei der Hallen-Europameisterschaft in polnischen Torun mit neuer persönlicher Bestzeit von 7:48 Minuten. Es war angerichtet: Noch 3 Monate gesund durchkommen und eine 5000m Zeit unter 13:20 Minuten schien in greifbarer Nähe. Doch wie in jeder tragischen Geschichte, sollte es anders kommen.
Rückschlag: Corona-Impfung
Anfang Mai – deutlich später als viele andere Sportler – bekam ich meine Corona-Impfung. Johnson & Johnson legte mich für einige Tage flach, das war zu erwarten. Doch nach ausgestandener Impfreaktion hatte ich mit einer stark verkrampften Muskulatur zu kämpfen. So anfällig kannte ich meinen Körper nicht. Bei einem mäßigen Tempo von 3:00 min / km fing ich mir eine Zerrung ein. Totalausfall bis kurz vor den Deutschen Meisterschaften. Mit einer fast 4-wöchigen Pause stellte ich mich trotzdem an die Startlinie. Platz 4 mit verkrampften 13:57 min auf die 5000 Meter. Langsam wurde mir klar: Es müsste ein Wunder geschehen, um bis Ende Juni noch genügend Ranking-Punkte zu sammeln, um in Tokio mit dabei zu sein.
Abfinden oder Kämpfen?
Es setzte sich ein emotional sehr ambivalenter Prozess in Gang: Die Erkenntnis, dass der Traum von Olympia platzen wird und der Leistungssportler in mir, der am letzten Qualifikationstag, den 29.Juni 2021 in Luzern noch einmal einen Versuch starten wollte. Doch wer keine Pfeile im Köcher hat, der kann auch nicht weit schießen. Und so viele Pfeile kann man Innerhalb von 3 Wochen gar nicht sammeln, um von 13:57 Minuten Leistungsniveau auf eine Zeit von unter 13:20 Minuten min zu kommen.
Man hängt sich im Leistungssport an wenigen Höhepunkten auf. Deutsche Meisterschaft, Europameisterschaft, Weltmeisterschaft und Olympische Spiele. Alles andere sind Durchgangsstationen, Etappenziele oder Vorbereitungswettkämpfe. Aber ist es am Ende wirklich nur dieser eine Moment? Der alles entscheidet? Erfolg von Misserfolg haarscharf trennt. All die Trainingslager und Schufterei entweder rechtfertigt oder lächerlich sinnlos erscheinen lässt? Für viele mag das von außen und auf dem nackten Ergebnispapier so sein. Für mich zeichnet sich ein anderes Bild.
„Der Weg ist das Ziel“
„Der Weg ist das Ziel“ mag für viele wie eine hohle Phrase klingen. Genauer betrachtet, steckt in dieser Binsenweisheit aber ein wahrer Kern. Es wäre fatal, die Karriere eines Leistungssportlers an den wenigen erfolgreichen Höhepunkten zu messen. Was die Bekanntheit und die finanzielle Situation angeht, mag das zwar der Fall sein. Aber die Erlebnisse und Erfahrungen, die man aus 1 ½ Jahrzehnten Mittel- und Langstreckensport mitnimmt, lassen sich nicht an ein paar Wettkämpfen festmachen. Egal, ob es die Erfahrungen im kenianischen Hochland, die internationalen Begegnungen bei Auslandswettkämpfen oder die zusammenschweißenden Trainingsstunden mit den Vereinskollegen sind: Den Weg zu meinen verpassten Olympischen Spielen zu bestreiten, war es mir absolut wert. Der Frust und die Trauer über das verpasste Großereignis, können gegen all die Erlebnisse nichts ausrichten.
Vor dem Fernseher in Deutschland verfolgte ich die Corona-Olympiade mit gemischten Gefühlen. Es war schon befremdlich solch sterile und abgeschottete Spiele zu verfolgen. Während in manchen Ländern der Welt das Coronavirus nach wie vor für katastrophale Zustände sorgt, trifft sich ein elitärer Kreis von Spitzenathleten in Tokio, um das größte Sportereignis des Planeten zu zelebrieren. Gleichzeitig war es für die Sportler und für Sportbegeisterte gut, dass die Spiele stattgefunden haben. Die Emotionen waren echt. Die der Sportler und die derjenigen, die gebannt vor den Bildschirmen saßen. Auch bei mir: die geteilte Goldmedaille im Hochsprung, das zehrende Rennen meiner Freundin Hanna Klein über die 1500m, die Wut und Enttäuschen von Johannes Vetter oder die Glückseligkeit von Malaika Mihambo nach ihrem letzten Versuch zur Goldmedaille. Höhenflüge und Rückschläge. Freude und Trauer. Ambivalenzen kann man nicht immer lösen. Sie gehören zum Sport sicherlich genauso dazu, wie zu vielen anderen Lebensbereichen. Immerhin hat man im Vergleich zur Fußball-Europameisterschaft nicht darüber hinweggetäuscht, dass Corona präsent ist. Volles Stadion beim Finale im Wembley – Gähnende Leere in Tokio.
„Ich würde es wieder tun“
Über mehr als mein halbes Leben war ich Leistungssportler. Durch und durch. Mit allem was mir emotional und physisch mit in die Wiege gelegt wurde. Und wenn mich jemand fragen würde, ob ich diese Zeit bereue, könnte ich ihm ein entschiedenes „Nein“ entgegensetzen. Trotz der verpassten Spiele, trotz all der Verletzungen und trotz der Rückschläge: Ich würde es wieder tun. Auch wenn mir der Erfolg und die Anerkennung viel gegeben haben, war ich nie jemand, der sich zum Laufen aufraffen musste. Ich habe es geliebt. Das berühmt berüchtigte „Runners High“ war mir ein treuer Begleiter auf unzähligen Trainingseinheiten. Die Kameradschaft in meinem Verein, die Erlebnisse in Trainingslagern oder auf Wettkämpfen rund um den Globus möchte ich nicht missen. Sie haben mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Auch wenn mir die verpassten Spiele so manch schlaflose Nacht und damit Ringe unter den Augen, anstatt tätowierte Ringe auf der Schulter beschert haben. Ich würde es wieder tun.
Dieser unter zahlreiche weitere interessante Artikel erscheinen in unserer nächsten Ausgabe der FREUNDE-Zeitschrift. Diesen können Sie digital hier lesen.
(Text: Marcel Fehr, 29 Jahre, Langstreckenläufer & angehender Journalist /
Bild: Peter Busse, 2010 DM Jugend, Fehr gewinnt in Jena über 3.000 und 5.000 Meter)